Der Ansatz, Lebensmittel nicht nur als Nahrung, sondern auch als Requisite zur Selbstinszenierung zu sehen, knüpft an Überlegungen über das Verhältnis zwischen Sein und Wohnen an. Heidegger (1951) stellt das Wohnen als die grundlegende Form der menschlichen Existenz schlechthin dar und setzt es mit dem Bauen in Beziehung. Dabei ist die Ernährung doch noch viel grundlegender für das Sein. Beziehungen zwischen anbauen, zubereiten, haltbar machen, essen, trinken und leben sind Vorbedingungen des Daseins. Die Weitergabe des Wissens um die Mittel zum Leben sowie der Erwerb der Fähigkeiten, diese zu erzeugen und einzusetzen, bildet die Grundlage menschlicher Entwicklung überhaupt.
Wachsende Allianz der Willigen
Nach welchen Werten Gesellschaften leben, drückt sich darin aus, wie sie die agronomische und industrielle Herstellung von Rohstoffen und Lebensmitteln, den Handel, die Zubereitung und Präsentation von Lebensmitteln organisieren und ob sie Speisen und Getränke sinnvoll konsumieren. Nicht zuletzt ist Food Architecture, bei der Menschen Lebensmittel neu designen, Ausdruck der einzelnen Kulturen. Erst durch die Konfrontation mit den Ernährungsgewohnheiten einer anderen Kultur und die daraus entstehenden Konsequenzen können wir Ansätze für ein neuartiges gemeinsames Handeln erkennen und in einer wachsenden Allianz der Willigen zur Regeneration des Lebens auf dem Planeten beitragen.
Disziplinen der Food Architecture
Und dies ist dringend notwendig. Denn die differenzierte Ausgestaltung von Wertschöpfungsketten, verbunden mit der Beschaffungsoptimierung, führte zu einer Effizienzsteigerung der Produktions- sowie der Austauschstrukturen und so zur Kostensenkung. Konzentrationen im Handel folgten entsprechenden Entwicklungen in Verarbeitung und Rohstoffproduktion. Preis- und Kostendruck führten zur partiellen Entwertung der Grundstoffe, der Lebensmittel und der Produktion selbst. Gleichzeitig wurden die Marketinganstrengungen zur Darstellung des Wertangebotes und der Convenience-Grad mit immer aufwendigeren Verpackungen erhöht. Diese Verlagerung des Ressourceneinsatzes von der landwirtschaftlichen Produktion und der Lebensmittelherstellung hin zur Vermarktung hatte ebenfalls weitreichende Konsequenzen.
Wie kann man trotz aller Vielfalt bei Lebensmitteln ohne Ressourcenverschwendung und ohne Foodwaste auskommen? Tilo Hühn, Leiter des Zentrums für Lebensmittelkomposition und -prozessdesign an der ZHAW. Informationen, die direkt über die modernen Medien an die Konsumentinnen gelangen, führen nun zu einer Bewusstseins- und Verhaltensänderung, die einen Prozessmusterwechsel erfordert. Eine zentrale Frage, die es in den Life Sciences dabei zu beantworten gilt, ist: Wie kann die nutritive Erfahrung des Essens in ihrer individuellen, teilweise identitätsstiftenden Bedeutung wieder sinnstiftend zum Ausdruck kommen? Oder anders ausgedrückt: Wie kann man trotz aller Vielfalt bei Lebensmitteln ohne Ressourcenverschwendung und ohne Foodwaste auskommen? Antworten auf diese Fragen kann die Analyse des Verhältnisses zwischen Nahrungsmittelproduktion und Gesellschaft liefern. Dabei hilft ein Blick in die Architekturgeschichte.
«Form folgt der Funktion»
Le Corbusier (1933) beschreibt das Haus als «Wohnmaschine». Louis Sullivan (1896) setzt den Kontext für die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt mit seinem Leitspruch «Form folgt der Funktion». Funktionen von Lebensmitteln sind beispielsweise Ernährung, Erneuerung, geistige und physische Aktivität, Selbstoptimierung, Kommunikation, Zugehörigkeit, Wertschöpfung, Entsorgung und Selbstinszenierung. Wie muss dann also die Form von Lebensmitteln aussehen?
Mehr Zeit durch Convenience-Food
Die gesellschaftliche Bewegung hin zum Rationalismus eines Le Corbusier führte zu einer Betonung der technischen Möglichkeiten der Herstellung von Agrarprodukten und Lebensmitteln sowie zur Massenproduktion und sogar zur Entfremdung zwischen Mensch und Umwelt. Es folgte die Entwicklung von Convenience-Lebensmitteln, die gleichzeitig die Verpflegung unterwegs ermöglicht. DieseProdukte stellen die im Nahrungsmittelprozess notwendigen Ressourcen, die jetzt wegen ihres hohen Vor- und Zubereitungsgrades andernorts anfallen, dem Individuum in Form von freier Zeit für andere Aktivitäten zur Verfügung. Ob man vorbereitetes Essen nachfragt oder – der Gegenentwurf – dieses selbst herstellt, wird zu einem Faktor, der nicht nur zu einer neuen persönlichen Ressourcenallokation führt, sondern auch ein Hinweis dafür ist, welche Bedeutung jemand Lebensmitteln beimisst.
Sehnsucht nach Ursprünglichem
Der in der Architektur der Moderne beobachtbare Funktionalismus eines Sullivan entspricht, übertragen auf Lebensmittel, der Sehnsucht nach «einfachen, ursprünglichen, unverpackten, ehrlichen, anständigen, reinen, natürlichen, leidfreien» Lebensmitteln, die möglichst nur einen geringen Fussabdruck durch ihre Produktion und den Konsum hinterlassen. Jedes Nahrungsmittel sollte unverstellt durch Marketingaktivitäten seine Funktion offenbaren. Verbindet man eine stärkere Betonung des technisch Möglichen (Zellkulturen, Plant Protein based Meat etc.) mit der Konzentration auf das Reine, Unveränderte (Urban Gardening, Permakultur, wie man nutzbare, sich selbst erhaltende Ökosysteme nennt etc.), erzeugt dies bei unterschiedlichen Erlebnisgemeinschaften zunehmend Resonanz. Vorausgesetzt werden beim Einkauf, dass Lebensmittel frei sind von Umweltkontaminanten, Pestiziden, Antibiotika und synthetischen Düngemitteln. Grosse Beachtung findet ebenfalls das Wohl der Tiere – falls Fleisch überhaupt noch auf dem Speiseplan steht.
Ausdrucksformen des Funktionalismus
Der Funktionalismus kann dabei verschiedene Ausdrucksformen annehmen: Einerseits ist da die Bewegung, die eine fundamentale Kehrtwende im Konsumverhalten und im Umgang mit Ressourcen fordert, wie die Umweltbewegung «Extinction Rebellion». Andererseits sind da die Anhänger, die auf eine Verschmelzung mit Technik und Selbstoptimierung durch «Transhumanismus» oder «Genetische Optimierung» (Crispr-Cas) setzen und darin eine Möglichkeit zur Anpassung an eine veränderte Umwelt sehen.
Wertschöpfungsnetzwerk
Beide Bewegungen machen deutlich, dass eine radikale Umgestaltung der Prozesse in der Food-Branche notwendig und erwünscht ist. Anstelle einer differenzierten und linearen Wertschöpfungskette braucht es ein Wertschöpfungsnetzwerk. Zwei wesentliche Faktoren, die zur Umgestaltung beitragen, sind die Verlagerung der Produktion in Richtung Konsumenten, die zu Prosumenten werden, und die digitale sowie mediale Vernetzung.
Community Nutrition
Wird die Wertschöpfungskette der Nahrungsmittelproduktion zu einem Netzwerk und wird die asymmetrische Verfügbarkeit von Informationen über Nahrungsmittel aufgehoben, kann mittels Transparenz verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewonnen werden. Der Wunsch, länger und gesund zu leben, steigert das Interesse an der Ernährung und allen damit verbundenen Bereichen. Es ist Zeit für eine Community Nutrition, die die Konsumentinnen schon in den Planungsprozess für die Lebensmittelherstellung und ihre Grundstoffe einbezieht. Sie greift auf eine lokale Umgebung sensibel zurück und interagiert mit der Umwelt. Globale Konzepte können nur Wirkung erzeugen, wenn sie lokal verankert sind. Für die Nahrungsmittelindustrie klingt das derzeit noch zu radikal. Es braucht aber radikale Prozessmusterwechsel. Nur so lässt sich Vertrauen in Lebensmittel zurückgewinnen und die Umwelt schützen.
Informationen und Quellen
Das Hochschulmagazin «Impact» der ZHAW erscheint viermal im Jahr (Print- und Web-Magazin) und berichtet unter anderem über aktuelle Forschungsprojekte, neue Studiengänge und Weiterbildungsangebote sowie über Absolventinnen und Absolventen.
❱ https://impact.zhaw.ch
Prof. Dr. Tilo Hühn, ZHAW Life Sciences und Facility Management, Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation
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