Lebensmittel-Industrie: Sie engagieren sich u. a. für die Rohmilchverarbeitung – bitte geben Sie einen Überblick …
Hans-Peter Bachmann – In einer Literaturübersicht haben wir die aktuellen Ergebnisse aus der Forschung zusammengefasst und die positiven Effekte und die Risiken eingeordnet. Heute wissen wir, dass die Mikroben im Darm viele Wirkungen auf den Menschen haben: Zusätzlich zu den immunologischen Funktionen, der Produktion von Vitaminen und dem Abbau von Nahrungsfasern besitzen sie metabolische Eigenschaften, die an der Prävention von Fettleibigkeit und Herz-Kreislauf- Erkrankungen beteiligt sind. Sie beeinflussen sogar unsere psychische Gesundheit. Für all diese Funktionen ist eine möglichst breite Vielfalt des im Darm vorhandenen Mikrobioms unerlässlich. Jede Ernährung, die diese Vielfalt begünstigt, fördert damit auch einen guten Gesundheitszustand. Wegen der grossen mikrobiellen Diversität können sich Rohmilch und Rohmilchprodukte positiv auf die Vielfalt des Darmmikrobioms auswirken.
Wie ergänzen sich bei der Rohmilchverarbeitung traditionelles Fachwissen und neue Erkenntnisse?
Die jahrzehntelange, manchmal sogar jahrhundertelange Erfahrung bei der Herstellung von Rohmilchprodukten ist von unschätzbarem Wert. Mit den «Entdeckungsreisen zu Rohmilchprodukten » in sieben ausgewählte Käsereien wurde versucht, diese Erfahrung zu dokumentieren, zu verstehen und wissenschaftlich einzuordnen.
2023 fand der Kongress der handwerklichen Käserinnen und Käser aus Europa (FACEnetwork) zum ersten Mal in der Schweiz statt und brachte über 200 Teilnehmende aus 15 Ländern nach Grangeneuve. Rohmilch und Rohmilchprodukte waren das Thema dieses Kongresses. Auf dem Programm standen Besuche von handwerklichen Käsereien und Milchbetrieben, praktische Workshops, Fachvorträge und ein grosses Buffet mit Käsesorten aus Europa. Die Veranstaltung wurde vom Kompetenzzentrum Rohmilchprodukte, einer Partnerschaft zwischen Agroscope und dem Kanton Freiburg, organisiert.
Die enormen Anstrengungen im Bereich der Hygiene bei der Milchgewinnung und die konsequente Kühlung bei der Milchlagerung haben dazu geführt, dass der Umfang und die Vielfalt der Mikrobiota in der Rohmilch stark abgenommen haben. Wir haben deshalb erste wissenschaftliche Grundlagen erarbeitet für eine selektive Anreicherung stabiler mikrobieller Systeme aus der Rohmilch, um damit die mikrobielle Vielfalt wieder zu erweitern, ohne die Sicherheitsund Qualitätsrisiken beim Rohmilchkäse zu erhöhen. Der Selektionsdruck könnte durch Temperatur, pH-Wert, Salzgehalt und Konkurrenz erzeugt werden. Erste vielversprechende Studien wurden in diesem Bereich durchgeführt (Bettera et al., 2023; Dreier et al., 2025).
Im Kompetenzzentrum für Rohmilchprodukte werden verschiedene Fragestellungen aus der Praxis bearbeitet. So werden zum Beispiel weitere HACCP-Konzepte für die Herstellung von Rohmilchprodukten entwickelt oder wissenschaftliche Abklärungen getätigt, um die Kosten für die externe Analytik zu optimieren. Die Rohmilchverarbeitung findet vor allem in gewerblichen Betrieben statt.
Was ist dabei bezüglich Forschung besonders wichtig?
Rohmilchkäsereien sind kleine, handwerkliche Betriebe, die sich keine eigenen Forschungsabteilungen leisten können. Daher ist öffentlich finanzierte Forschung erforderlich, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und umzusetzen, beispielsweise über die Bedeutung der Mikrobiota. Dank öffentlicher Finanzierung werden die Forschungsergebnisse international veröffentlicht, sodass sie der gesamten Käsebranche zur Verfügung stehen und dazu beitragen, die Qualität und Sicherheit von Rohmilchkäse weltweit kontinuierlich zu verbessern. Agroscope kann in diesem Bereich zwei konkrete Erfolge vorweisen. Auf der einen Seite wurde ein Sanierungskonzept entwickelt und im ganzen Kanton Tessin erfolgreich umgesetzt, um die Milchviehherden freizubekommen von Staphylococcus aureus Genotyp B, dem wichtigsten Erreger von Euterentzündungen und dem grössten Risiko bei der Lebensmittelsicherheit von Rohmilchkäse. Auf der anderen Seite konnte die Ursache für die Bildung von Histamin bei der Käsereifung ermittelt werden. Histamin reizt die Schleimhäute und wird deshalb als brennend oder stechend wahrgenommen. Bei empfindlichen Personen kann Histamin auch zu gesundheitlichen Beschwerden
führen. Beide Beispiele zeigen, dass beim Rohmilchkäse die Qualität und die Lebensmittelsicherheit wie zwei Seiten der gleichen Medaille sind.
Was ist bei den konkreten Verarbeitungsbedingungen besonders zu beachten?
Für die Herstellung von Rohmilchprodukten braucht es zwingend möglichst frische Milch, die täglich verarbeitet werden muss. Es ist auch unabdingbar, dass die Käserin bzw. der Käser die Milchbäuerinnen bzw. die Milchbauern persönlich gut kennt und ein Vertrauensverhältnis besteht. Auch müssen die Bäuerinnen und Bauern die Tiere gut kennen und tagtäglich eine gewisse Zeit mit ihnen verbringen, um Verhaltensveränderungen, die auf eine Erkrankung hindeuten könnten, frühzeitig zu erkennen.
Die Herstellung von Rohmilchprodukten ist sehr aufwendig und sehr anspruchsvoll. Dazu braucht es Leute mit einer starken Mission für eine nachhaltige Landwirtschaft, regionale Wertschöpfungsketten, handwerkliche Herstellung und genussreiche, gesunde Lebensmittel.
Sie befassen sich auch mit der Verarbeitung von pflanzlichen Proteinen – inwiefern gibt es hier Vergleichbarkeiten?
Wir vertreten bei den pflanzlichen Alternativen bewusst einen nachhaltigeren Ansatz:
❱ Rohprodukte, wenn möglich Nebenprodukte, keine Isolate wie Proteinpulver, Öle beziehungsweise Fette. Bei Agroscope arbeiten wir zum Beispiel stark mit Ölpresskuchen
❱ Rohstoffe aus der Schweizer Landwirtschaft
❱ Handwerkliche Technologie, idealerweise umsetzbar in jeder gewerblichen Käserei ohne grössere Investitionen
❱ Mit natürlichen Starterkulturen fermentiert
❱ Keine Imitate, sondern eigenständige Lebensmittel mit einem hohen Genusswert im Einklang mit einer gesunden Ernährung
Pflanzenproteine sind Speicherproteine. Sie sind gut geschützt und werden erst durch das Auskeimen verfügbar. Im Unterschied müssen die Milchproteine für den Säugling möglichst gut verfügbar sein. Dieser fundamentale Unterschied hat einen grossen Einfluss auf die Technologie für die Herstellung der Lebensmittel.
Das neue Reifungsverfahren für Käse, das Agroscope in den letzten Jahren entwickelt und patentiert hat, funktioniert auch für die Reifung von veganen Lebensmitteln. Im Unterschied zum Käse kann das Verfahren bei den veganen Lebensmitteln auch bei der Formgebung eine wichtige Funktion übernehmen. Die Reifung ist bei den veganen Lebensmitteln aktuell noch die grösste Herausforderung und steht im Zentrum der Arbeiten von Agroscope. Facettenreiche Aromen, wie wir sie von den Käsen her kennen, entstehen im Wesentlichen durch die Reifung.
Teilweise werden milchwirtschaftliche Infrastrukturen für die Verarbeitung von pflanzlichen Proteinen genutzt – ein Zukunftsmodell?
Es ist nicht meine Kernkompetenz, das zu beurteilen. Ich kann mir jedoch Betriebsgemeinschaften von beispielsweise drei handwerklichen Käsereien vorstellen. Eine Käserei könnte sich auf den Sortenkäse fokussieren, die zweite eine Vielfalt von Käsespezialitäten herstellen und die dritte mit veganen Käsealternativen neue Märkte erschliessen.
Es kann Sinn machen, die veganen Käsealternativen nicht in den gleichen Räumlichkeiten wie die Käse herzustellen, da zum Beispiel einige pflanzliche Rohstoffe zu den Allergenen gehören.
Wie fliessen die Ergebnisse Ihrer Forschung in die Aus- und Weiterbildung ein – auf Berufs- und FH-Ebene?
Aus meiner Sicht hat die Forschung eine Bringschuld. Dabei ist auch wichtig, alle möglichen Kanäle zu nutzen und auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Empfängerinnen und Empfänger einzugehen. Persönliche Kontakte sind jedoch klar der Königsweg, da das gegenseitige Vertrauen eine wichtige Grundlage ist.
Welche weiteren Forschungsthemen sind in diesem Zusammenhang noch interessant?
Wir arbeiten zurzeit an einer Studie über die Authentizität von Walliser Roggenbrot AOP. Es ist faszinierend, die mikrobielle Vielfalt in den Sauerteigen zu entdecken und zu verstehen. Wie beim Rohmilchkäse ist auch das traditionelle Roggenbrot ein Handwerk mit einer unglaublichen Geschichte. Wir haben sogar einen Sauerteig gefunden, bei dem Lactobacillus helveticus dominant war. Ein Bakterium, das sonst eher im Käse vorkommt.
Die wissenschaftlichen Fragen zum neuen Käsereifungsverfahren konnten wir allesamt beantworten. Es konnte ein Textil entwickelt werden, das alle Anforderungen erfüllt. Es machte grosse Freude, dass nun die Käsereien und Textilfirmen die Federführung für die weitere Umsetzung übernommen haben.
Vielen Dank für den Austausch!