Die Schweizer Lebensmittel-Verarbeitungsbranche findet sich einmal mehr in der klassischen «Hammer-Amboss-Situation» wieder. Wie sich die agrarpolitische Debatte auf die nachgelagerte Wertschöpfungskette auswirkt, scheint kaum zu interessieren. Wenn von der Ernährungswirtschaft eine Vorreiter-Rolle bei der nachhaltigen Zukunftsentwicklung verlangt wird, muss jedoch transparent und fair sichergestellt werden, dass tatsächlich alle Mitwirkenden an dieser Entwicklung beteiligt werden. Im Verlauf der mehrjährigen Debatte scheiterten alle Anläufe für echte und wirksame parlamentarische Gegenvorschläge zu den Pestizidund Trinkwasser-Initiativen. Ausgewogene und praxisfähige Gegenvorschläge finden erfahrungsgemäss oft grosse Abstimmungsmehrheiten. Stattdessen sieht sich die Stimmbevölkerung einmal mehr mit einer unnötig eskalierten politischen Ausgangslage konfrontiert. In der Frühlingssession verschärfte eine Mehrheit des Nationalrats mit dem Sistierungsentscheid zum umfassenden Reformpaket «AP 22+» die bereits stark polarisierte politische Stimmung ohne Not noch weiter.
Als Präsident des Schweizerischen Bauernverbands (SBV) und Nationalrat kommt Markus Ritter dabei die entscheidende Rolle bei der Beschaffung agrarpolitischer Parlamentsmehrheiten zu. Er steht damit in der Hauptverantwortung der offensichtlich gewordenen Strategie: Mit einer bewussten politischen Eskalation die Ausgangslage für eine harte «2xNein»-Kampagne zu schaffen.
Sehr wahrscheinlich wird diese Taktik einmal mehr funktionieren und der Bauerverbands-Präsident bei den Juni-Abstimmungen als Sieger dastehen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden die beiden Pestizid-Initiativen mit einer taktisch gut konzertierten Kampagne «vom Tisch gefegt». Spätestens im historischen Rückblick dürfte sich der Erfolg als klassischer Pyrrhus-Sieg erweisen. Der gleichnamige antike Feldherr erkannte nach einem verlustreichen Sieg über die römischen Legionen: Einen weiteren solchen Sieg konnte er sich nicht leisten. In Anlehnung daran ist mit Blick auf die Zukunfts-Herausforderungen der Ernährungswirtschaft zu hoffen, dass die politischen Verantwortlichen aller Lager den durch die agrarpolitische Eskalation verursachten Schaden erkennen. Unabhängig vom Ausgang der JuniAbstimmungen ist das Hauptresultat schon jetzt klar: Sehr viel vergeudete Zeit und eine Schädigung des Vertrauens bei einem mit Sicherheit substanziellen Anteil der Stimmbevölkerung.
Die Ernährungswirtschaft der Zukunft lässt sich nur durch eine Überwindung der aktuellen polarisierten Grabenkämpfe erreichen. Die Hauptaufgabe besteht darin, endlich wirksame Leitplanken für eine effektiv nachhaltige Entwicklung zu setzen und zukunftsfähige Praxislösungen nicht weiter mit Fehlanreizen zu behindern. Gefragt ist ein echter Ausgleich der gleichwertigen Ansprüche bezüglich Versorgungssicherheit, zeitgemässen Produktionsbedingungen mit dem dringlichen Handlungsbedarf für ein zukunftsfähiges Ressourcen-Management mit Blick auf die Klima- und Biodiversitäts-Ziele 2030.
Die aktuelle Situation erinnert an die 1990erJahre, als eine mehrjährige agrarpolitische Debatte schliesslich in der Überwindung des Nachkriegs-Systems der Produktions-Subventionen resultierte. Vor rund 25 Jahren verankerte die Stimmbevölkerung diese richtungs- und zukunftsweisenden Leitplanken in der Verfassung. Darauf beruht das heutige Direktzahlungssystem mit dem Fokus auf der Vergütung ökologischer und gemeinnütziger Leistungen. Die aktuelle Herausforderung besteht im Kern in der zeitgemässen Erneuerung dieses Prinzips. Gut möglich, dass der Impuls dafür erneut durch die Stimmbevölkerung gesetzt werden muss