Ukraine – das meist wenig wahrgenommene Land, geografisch mitten in Europa gelegen, steht derzeit weltweit im Zentrum der Beachtung. Der Schrecken über den aggressiven Angriff vermischt sich mit einer für viele neuen Erkenntnis: Mit ihrem tapferen Widerstand verteidigt die ukrainische Bevölkerung ihre neu aufgebaute rechtstaatlich-demokratische Gesellschaftsordnung weit über die Landesgrenzen hinaus und insbesondere zum Schutz der oft proklamierten europäischen Wertegemeinschaft.
Hungersnot-Gefahr im Nahen Osten und Afrika
In den Medien dominiert die Frontberichterstattung und Schlagzeilen zu den negativen Auswirkungen auch auf die Agrar- und Ernährungswirtschaft. Die direkten Auswirkungen auf Westeuropa und insbesondere die Schweiz dürften sich dank einem traditionell hohen Selbstversorgungsgrad und der krisenerprobten Pflichtlagerhaltung weitgehend auf die Futtermittel-Versorgung beschränken. Betroffen ist möglicherweise jedoch der Anbau von gentechfreien Futterkulturen, die sich seit einigen Jahren als europäische und ökologisch sinnvolle Alternative zu Herkunftsländern wie Brasilien und China etablierten. Viel stärker und direkt bedroht ist der Nahe Osten und einige Länder Afrikas, die sehr stark vom ukrainischen und teilweise dem russischen Brotgetreide-Anbau abhängig sind. Laut offiziellen ukrainischen Quellen hängt die Ernährung von insgesamt mehreren Hundert Millionen Menschen direkt von ukrainischen Getreidelieferungen ab. Prekär dürften sich die Versorgungsengpässe im bereits heute massiv unterversorgten kriegsversehrten Jemen auswirken. Akut bedroht ist der von vielfältigen Krisen erschütterte Libanon. Direkt ernährungsrelevant wirkt sich nach wie vor die riesige Explosion im Hafen von Beirut aus, die vor wenigen Jahren grosse Teil der Getreidereserve vernichtete.
Frühlingsaussaat unter erschwerten Bedingungen
Im Frühling steht bekanntlich die Aussaat für Getreide und viele weitere Ackerbaukulturen an, für die Arbeit auf den grossen Agrarflächen der sprichwörtlichen Kornkammer Ukraine eine entscheidende Zeit. Die Behörden unternehmen derzeit in enger Koordination mit den Fachleuten der Branche, um dies auch dieses Jahr überall dort zu ermöglichen, wo die kriegerische Bedrohung nicht allzu gross ist. Wichtig ist dabei die Versorgung mit Treibstoffen und agrartechnischen Hilfsmitteln. Dabei ist laut offiziellen ukrainischen Quellen die Grundversorgung der Bevölkerung dank einer ausgebauten Pflichtlagerhaltung sichergestellt. Viele grosse Agrarbetriebe sitzen zudem auf umfassenden Lagerbeständen und sind entsprechend lieferbereit und offen für neue Kooperationen.
Ukrzaliznytsia – Staatsbahn als Lebensnerv
Viele Fachleute der ukrainischen Ernährungswirtschaft engagieren sich derzeit mit ihrem Fachwissen für die Versorgung unter kriegswirtschaftlichen Bedingungen. Oft wird dabei die existenzielle Bedeutung eines auch in der ÖV-versierten Schweiz bisher wenig bekanntes Unternehmen zu hören: Ukrzaliznytsia (Originalschreibweise: Укрзалізниця) die ukrainischen Staatsbahnen. Diese übernehmen von den lebensrettenden Massen-Evakuationen über die humanitäre Hilfe bis zur Versorgung existenziell notwendiger Güter aller Art eine entscheidende Rolle. Die grosse Durchhaltefähigkeit des ukrainischen Widerstands weit über den eigentlichen militärischen Kampf hinaus baut wesentlich darauf auf.
An Rollmaterial fehlt es dabei nicht. Seit Wochen zirkulieren in den Social Medias Videos von erbeuteten russischen Panzern, welche von der Landbevölkerung meist mittels Traktoren von den Feldern abgeschleppt werden. Volkswirtschaftlich noch wichtiger dürfte sich ein Entscheid des auch in Kriegszeiten tagenden ukrainischen Parlaments auswirken. Eine neu geschaffene Rechtsgrundlage ermöglicht es der Staatsbahn Ukrzaliznytsia, das auf ukrainischem Gebiet stehende Rollmaterial russischer Eisenbahnen zu «nationalisieren». Laut einer Medienmitteilung seitens Ukrzaliznytsia könnten insgesamt rund 15 000 Wagons betroffen sein.
Aufruf «Organic Ukraine»: Trotz Krieg Kooperation ausbauen!
In einem aktuellen Statement ruft die ukrainische Biobranche offensiv dazu auf, trotz oder gerade angesichts des russischen Angriffskriegs im Rahmen der Möglichkeiten die Handelsbeziehungen aufrechtzuerhalten
und auszubauen. Um dies zu erreichen, wurden in Koordination mit der europäischen und globalen Bioszene spezifische Unterstützungsprogramme lanciert. Diese Zusammenarbeit stützt sich auf eine bereits jahrelange Aufbauarbeit. Der Ukraine-Stand an der Weltleitmesse BIOFACH in Nürnberg bildete jeweils einen wichtigen Branchentreffpunkt – und zum Ausgangspunkt erfolgreicher Handelspartnerschaften sowie persönlicher Freundschaften gleichermassen. Vielfältige, langfristig angelegte Kooperationen und Entwicklungsprojekte wie das langjährige Engagement des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL) unterstützten die ukrainische Biobewegung als gegenseitigen Lernprozess auf Augenhöhe.
«Hall of Shame» für Russlandgeschäft lanciert
Ende März gab das zur Schweizer Coop-Genossenschaft gehörende Grosshandels-Unternehmen Transgourmet bekannt, sich vollständig aus den Geschäftstätigkeiten in Russland zurückzuziehen. Die Geschäftsaktivitäten von Selgros und Global Foods werden im Rahmen eines Management-Buy-outs vor Ort weitergeführt. Damit kann den betroffenen Mitarbeitenden eine Perspektive gegeben werden. Die mittlerweile europaweit aktive Schweizer Grossgenossenschaft zeigt damit eine konsequente Haltung angesichts des russischen Angriffskriegs und nimmt gleichzeitig die soziale Verantwortung gegenüber den Mitarbeitenden und der Bevölkerung vor Ort wahr. Unternehmen, die weiterhin in Russland aktiv bleiben wollen, geraten zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Die renommierte «Yale School of Management» führt eine Unternehmensliste mit dem einprägsamen Titel «Hall of Shame». Ein global vernetztes Rechercheteam aktualisiert die Liste laufend. Unterschieden wird durchaus differenziert zwischen «Digging in»-Unternehmen, die am Russlandgeschäft vollständig festhalten, über «Buying time» für abwartende Firmen, vorübergehende Suspensionen etwa bezüglich Werbung und Investionen bis zum vollständigen strategischen Rückzug aus dem Russlandgeschäft.