Doch was wäre, wenn wir unser Ernährungssystem nicht mehr als Kette, sondern als dynamisches Netzwerk betrachten würden? In einem solchen Netzwerk sind alle Akteure Partner, die sich möglichst auf Augenhöhe begegnen und auf gemeinsame Werte und ein übergeordnetes Ziel hinarbeiten. Vertrauen und Kooperation wären zentrale Bausteine, und natürlich müsste es auch ökonomisch nachhaltig sein. Ein solches System hat nicht nur das Potenzial, einen Mehrwert für alle Beteiligten zu schaffen, sondern könnte auch die Grundlage für ein resilienteres und gerechteres Ernährungssystem sein.
Am Anfang jeder Wertschöpfungskette im Lebensmittelsektor stehen die landwirtschaftlichen Produkte. Werden diese nicht direkt als Frischware verkauft, durchlaufen sie (industrielle) Verarbeitungsprozesse und gelangen über den Einzelhandel oder die Gastronomie zu den Konsumentinnen. Im Mittelpunkt steht dabei das Produkt mit seinen handelbaren Eigenschaften, die an den nächsten Akteur in der Kette weitergegeben werden. Jedes Glied der Kette will seinen Anteil am Erlös; je mehr Macht ein einzelner Akteur hat, desto grösser ist sein Anteil. Dies führt dazu, dass soziale Aspekte in der Produktion von Lebensmitteln und die ökologische Rolle von Lebensmittelsystemen vernachlässigt werden.
Deshalb sollten wir unser Ernährungssystem nicht mehr als lineare Kette, sondern als Netzwerk betrachten. In einem Netzwerk stehen die Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten – von den Produzenten bis zu den Konsumentinnen – im Vordergrund. Die Akteure sehen sich nicht mehr länger als Kunden, Lieferanten oder Konkurrenten, sondern als Partner. Solche Netzwerke können sehr dynamisch sein und durch zahlreiche Interaktionen und vielfältige Beziehungen einen Mehrwert für alle schaffen.
Was macht ein gutes Netzwerk aus? Es basiert auf gemeinsamen Werten und einem übergeordneten Ziel. Es sollte offen sein für alle, die sich den gemeinsamen Werten verpflichtet fühlen. Das Ziel könnte sein, unsere Gesellschaft mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen – und zwar zu möglichst geringen ökologischen und sozialen Kosten. Im Gegensatz zu den heutigen Wertschöpfungsketten, die auf maximalen Profit ausgerichtet sind, strebt ein solches Netzwerk optimale Lösungen für alle an. Dazu müssen aber auch die wirtschaftlichen Bedürfnisse aller Akteure berücksichtigt werden.
Netzwerke leben von den Menschen und ihren persönlichen Beziehungen. Vertrauen, Authentizität, gegenseitiger Respekt und Wertschätzung sind unverzichtbare Eigenschaften, die uns zusammenhalten. Neben dem Fachwissen sind deshalb soziale Kompetenzen, die wir etwas despektierlich als «Soft Skills» bezeichnen, elementar. Kommunikations- und Teamfähigkeit sowie Einfühlungsvermögen sind entscheidende Faktoren für den gemeinsamen Erfolg. Diese Prinzipien stehen im Gegensatz zur zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft und dem Rückzug in die sogenannten «sozialen Medien».
Es gibt noch viel zu tun, und die Idee solcher Netzwerke ist auch nicht neu. Seit Jahrhunderten leben Menschen in Gemeinschaften und fühlen sich dort wohl. In unserer Gesellschaft ist diese gegenseitige Abhängigkeit nicht mehr so offensichtlich – im Notfall übernimmt der Staat. Wir befinden uns in einem ständigen Wettbewerb und führen Erfolg und Wohlstand auf individuelle Leistungen zurück. Die Stärkung gemeinschaftlicher Werte entgegen dieser Denkweise ist eine grosse Herausforderung, aber auf dem Weg zu einem resilienten und gerechteren Ernährungssystem wohl unerlässlich.
▶ In dieser Rubrik äussern Vertreter aus der Lebensmittelindustrie ihre Meinung zu aktuellen Themen.
Marcel Anderegg, Geschäftsführer svial – My Agro Food Network